Immaterielles Kulturerbe – Bewahrung und Stärkung des traditionellen Handwerks
ein Aufsatz von Claudia Krischer und Cornelie Müller-Gödecke in dem Begleitband zur Ausstellung „Kreatorzy – Textilien aus Pommern“ in Gdansk, Mai – Juli 2024

Die Pommerschen Fischerteppiche sind mit ihrer nun fast hundertjährigen Geschichte ein einzigartiger, aber gefährdeter Bestandteil der Kultur der vorpommerschen Küste.
Denn das Wissen um die Pommerschen Fischerteppiche versinkt.

„Das ist ja interessant! Davon habe ich noch nie etwas gehört.“ Solche Aussagen sind oft zu hören, wenn von den Pommerschen Fischerteppichen die Rede ist. Die Gründe für das Vergessen sind mannigfaltig, die Aktivitäten zu ihrer Erhaltung sind es aber auch.
Die Geschichte dieser einzigartigen Teppiche ist untrennbar mit ihnen verbunden. Sicherlich ist ein Pommerscher Fischerteppich schon für sich allein ein Schmuckstück. Seine kunsthandwerkliche Fertigung zeugt vom Können des Knüpfers oder der Knüpferin. Die typischen Motive, der ‚Vierfisch‘, die ‚Fischkiste‘ oder die ‚Stranddistel‘ erzählen von den Fischern, die damals knüpften. Aber auch der Teppich an und für sich hat eine besondere, einzigartige Geschichte. Die Geschichte der Gegend, die Gründe, warum es überhaupt Fischerteppiche gibt. Wer also nur einen Pommerschen Fischerteppich sieht, die besondere Herkunft aber nicht kennt, der sieht nicht nur nur einen Teil dessen, was da ist. Der verpasst nicht nur eine ganz besondere Geschichte, der- – oder diejenige – könnte auch meinen, die Motive seien austauschbar, willkürlich gewählt. Und damit wäre auch der Teppich austauschbar und willkürlich. Ein Produkt, dass überall herzustellen ist und alles darstellen kann. Die Pommerschen Fischerteppiche aber sind einzigartig in und mit ihrer Geschichte.

In der Weltwirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg verarmten die Fischer an der Ostsee, und es mussten andere Erwerbsmöglichkeiten für sie gefunden werden. In der Region um Greifswald ergab sich die besondere Situation, dass die Fischer dort, unter Anleitung des Österreichers Rudolf Stundl ab 1929 das Knüpfen lernten.
Heute jedoch knüpft kein Fischer in der Region rund um Greifswald mehr Teppiche.
Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die Teppiche und ihre Herstellung fälschlich als ‚uraltes nordisches Handwerk‘ deklariert. Mit dieser falschen Herkunftsgeschichte wurden sie sehr populär, geradezu ein Missbrauch. Schon zu dieser Zeit knüpften die Fischer nicht mehr.
In der DDR wurde 1953, ebenfalls als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) ‚Volkskunst an der Ostsee‘ gegründet. Eine Win-win-Situation: die Menschen fanden Beschäftigung und für den Staat dienten die Teppiche als devisenbringende Exportartikel oder auch als prestigeträchtiges Staatsgeschenk. Aus politischen Gründen wurden sie in ‚Freester Teppiche‘ umbenannt, denn der Begriff ‚Pommern‘, als eigenständige Region, war in der DDR verpönt. Mit den Motiven wurde es nicht so genau genommen, da zierte schon mal ein Erst Thälmann oder ein Atomkraftwerk einen Teppich. Auch litt die Qualität unter den immer höheren Produktions-Vorgaben.
Die DDR gibt es nicht mehr und die Teppiche sind wieder ‚Pommersche Fischerteppiche‘.
Die Pommerschen Fischerteppiche haben eine Geschichte, eine Tradition, die eng mit der Region verbunden ist. Ohne die Region wäre der ‚Pommersche Fischerteppich‘ nicht denkbar.

Die PGH ‚Volkskunst an der Ostsee, arbeitete nicht kostendeckend und wurde in den neunziger Jahren aufgelöst. So wurden die Knüpferinnen, und es waren ausschließlich Knüpferinnen, arbeitslos und mussten versuchen, ihr Handwerk eigenständig weiter auszuüben. Vielen gelang das nicht.

Heute stellen noch drei ausgebildete Kunsthandwerkerinnen Fischerteppiche von der Ostsee-Küste her:
Ulrike Sulk aus Sundhagen führte lange eine Galerie für Kunst- und Kunsthandwerk in Greifswald, erlernte das Knüpfen bei Gisela Zeidler und knüpft seit 2002 in Vollzeit. Die Weitergabe des Handwerks liegt ihr besonders am Herzen.
Gisela Zeidler aus Lubmin arbeitete von 1979 bis 1992 als Teppichknüpferin in der PGH ‚Volkskunst an der Ostsee‘ und war zwischen 1993 und 1997 pädagogische Mitarbeiterin an der Heimvolkshochschule Lubmin, wo sie auch das Knüpfen lehrte.
Helga Grabow aus Spandowerhagen knüpft in ihrer Stube und zeigt das Handwerk in der großartigen Sammlung des Freester Heimatmuseums.
Alle drei Knüpferinnen sind inzwischen über 70 Jahre alt.

Sie haben eine Knüpf-Ausbildung und kennen die besonderen Knoten und Techniken, die einen Pommerschen Fischerteppich ausmachen, denn es gibt grundlegende Regeln, die bei der Herstellung beachtet werden müssen. Geknüpft werden die Fischerteppiche auf einem Hochwebstuhl, der mit einer Leinenkette bespannt und in zwei Fadensysteme geteilt ist. Geknüpft wird mit gleichmäßig lang geschnittenen Wollfädchen, von etwa drei bis vier cm Länge. Nach Fertigstellung des Teppichs werden die verbliebenen Kettfäden für die typischen Teppichfransen gekürzt und verknotet. Zudem gibt unterschiedliche Knoten für die verschiedenen Elemente des Teppichs. Erst diese Feinheiten unterscheiden einen Pommerschen Fischerteppich von irgendeinem Knüpfwerk und die drei Knüpferinnen von der Küste beherrschen sie perfekt. Es ist leider zu befürchten, dass sie die letzten ihrer Zunft sind.

Heute droht das handwerkliche Können verloren zu gehen. Kultur, Wirtschaft und soziales Gefüge haben sich, gerade in den letzten Jahrzehnten, dramatisch geändert. Schwierige Zeiten für die Teppiche von der Ostsee!
Glücklicherweise wurde die Tradition der Pommerschen Fischerteppiche im März 2023 von der Deutschen UNESCO-Kommission in das bundesweite Verzeichnis der immateriellen Kulturgüter aufgenommen, initiiert von der Organisation ‚Hille Tieden‘.
Ein Glücksfall. Fast scheint es, als sei die Teppich-Tradition dadurch aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und wiederbelebt worden. Hille Tieden versucht die Tradition in die Zukunft zu bringen. Workshops mit Mini-Knüpfstühlen werden organisiert, getuftete, nicht geknüpfte, Teppiche mit Fischerteppich-Motiven, Strandlaken und Küchentücher waren geplant. In touristisch attraktiven Regionen an der Ostsee soll der Pommersche Fischerteppich als markantes regionales Produkt beworben werden. Das ist ein wichtiger Beitrag um den Pommerschen Fischerteppich bekannt zu machen, denn man sieht nur was man weiß. Die traditionellen Motive sind wunderschön und schließlich kann nicht jeder, oder jede, einen Fischerteppich als Andenken mit nach Hause nehmen.
Aber reicht das aus um die Tradition fortzuführen, um die Pommerschen Fischerteppiche wieder in den Alltag zu bringen?

Ein weiterer Glücksfall: Der Arbeitskreis ‚Traditionelle Textilien‘ im Heimatverband Mecklenburg-Vorpommern. Ausgebildet an der Kulturakademie der Universität von Tartu, Estland, die den Studiengang ‚Traditionelles Kunsthandwerk‘ vorweisen kann, arbeiten die Akteurinnen mit Expertise und Leidenschaft für den Erhalt der Fischerteppich-Tradition. Beispielsweise mit einer Website, die über die Pommerschen Fischerteppiche informiert. Dort gibt es, fachlich fundiert, nicht nur Neuigkeiten aus der Fischerteppich-Szene, sondern auch über Ausstellungsorte, Geschichtliches und die Knüpferinnen.

Dem Arbeitskreis ‚Traditionelle Textilien‘ geht es nicht um ‚das Halten der Asche‘, um das traditionelle Knüpfen der alten Motive, sondern um ‚das Weitergeben der Flamme‘. Es geht um die Eigenart der Pommerschen Fischerteppiche, um eine Tradition mit einer einzigartigen Geschichte, die mit typischen Motiven und bestimmten Techniken arbeitet. Um das weiterzuführen ist noch Vieles zu tun. Denn Kulturerbe ist mehr als nur ‚richtige Farbe‘ oder ‚richtiges Muster‘, Kulturerbe umfasst Material, Werkzeuge, Handwerkskunst – historische Perspektive und dann, natürlich, auch meisterhafte Praxis. Zunächst muss das vorhandene Wissen um die Technik, die Materialien und Werkzeuge dokumentiert und zugänglich gemacht werden.
Die verschiedenen Knüpf-Techniken wurden schon angesprochen. Auch bei Material und Werkzeugen gibt es Besonderheiten. Der Knüpfstuhl und die schwere Schlaggabel zum Festigen der geknüpften Reihen, sind keine Massenware, die es im nächsten Baumarkt zu kaufen gibt, sondern Unikate, die eigens angefertigt werden. Die verwendete Wolle hat sich im Laufe der Entwicklung geändert, anfangs wurde lokale Schafwolle verarbeitet, später zu DDR-Zeiten dann Yak-Wolle, als befreundete sozialistische Staaten deren Wolle importierten. Gleich geblieben ist die Stärke und die Reinheit. Das aber wirft heutzutage Probleme auf, denn eine Wolle, die diesen Anforderungen entspricht, ist gar nicht mehr so einfach zu finden, erst recht nicht in der erforderlichen Farbe und erst recht nicht in bezahlbarer Menge. Aber es sind es diese ‚Kleinigkeiten‘, diese graduellen Unterschiede, die einen echten Pommerschen Fischerteppich ausmachen. Um sie zu erkennen, um davon zu wissen, braucht es Bildung.
Das kann durch Lehrgänge, Videos, Bücher, Kurse geschehen. Denn Kunst-Handwerk ist Handwerk: Warenkunde (Wolle, Spanngarn, Werkzeuge), Stilkunde und Arbeitserfahrung, Übung und Geduld gehören dazu – nur mit einer soliden handwerklichen Ausbildung können die Pommerschen Fischerteppiche in die Zukunft geführt werden.
Die Aufnahme in Textil-Studiengänge wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Notwendig ist die Aufnahme des Fischerteppich-Handwerks, akademisch unterfüttert, in die Curricula von Schulen, Universitäten und Kunstakademien und anderen Ausbildungs- und Bildungsstätten. Noch hilfreicher, wenn die Ausbildung zur Knüpferin institutionell verstetigt werden könnte, vielleicht als Schwerpunkt-Ausbildung in einem Textil-Beruf.
Eine strukturierte Ausbildung erfordert ein fundiertes Curriculum. Dazu braucht es als aber zuerst eine gründliche Erforschung des Ausbildungsgegenstandes.

Erste Schritte in diese Richtung sind bereits getan:
Claudia Krischer erstellt eine fotografische Dokumentation der Fischerteppiche in der umfangreichen Sammlung des Stadtgeschichtichen Museums Wolgast, die auch einige Teppiche aus der Sammlung Robert Stundls enthält. Denn Wolgast war Sitz der PGH ‚Volkskunst an der Ostsee‘ und hat darum einen besonderen Stellenwert. Nach der Aufarbeitung sollen Fotos dem Museum digital zur Verfügung gestellt werden. Die Verfügbarkeit in einer weltweit zugänglichen Datenbank, beispielsweise für Forschungszwecke, ist ein wichtiger Baustein in der Darstellung der Sammlung.
Die Knüpferin Ulrike Sulk schreibt ein Lehrbuch des Fischerteppich-Knüpfens, denn ein Lehrbuch gab und gibt es bisher nicht. Da die Knüpferinnen alle schon betagt sind, ist es wichtig, das Wissen festzuhalten. So können zukünftige Generationen, oder auch heute schon Interessierte einen Eindruck gewinnen und lernen wie richtig geknüpft wird.
Auf Initiative von Cornelie Müller-Gödecke und in Zusammenarbeit der Stadt Wolgast, dem Stadtgeschichtlichen Museum Wolgast und der Produktionsschule Vorpommern-Greifswald wurde der Bau von Knüpfstühlen in der Holzwerkstatt ermöglicht. Ulrike Sulk und Gisela Zeidler begleiteten und unterstützten Entwurf und Fertigung, ein alter Knüpfstuhl diente als Vorlage für die Umsetzung. Sie stellten sowohl beim Entwurf als auch der Fertigung sicher, dass der fertige Knüpfstuhl den Anforderungen genügt: funktionieren wie bisherigen Knüpfstühle, um mit der überkommenen Arbeitsweise das Fortbestehen des Kunsthandwerks zu ermöglichen, aber auch ausreichend transportabel sein, um ihn bei Workshops oder Schauknüpfen einsetzen zu können. Der erste Knüpfstuhl wurde der Stadt Wolgast im Oktober 2023 übergeben. Im Stadtgeschichtlichen Museum, als Ergänzung der Fischerteppich-Sammlung, steht er nun am richtigen Ort, um Schauknüpfen zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit mit der Produktionsschule ist ein weiterer Glücksfall. In der Schule lernen Jugendliche aus der Region wie ein historisch und technisch korrekter Knüpfstuhl gebaut wird. Ein Wissen, dass verloren zu gehen drohte. Nun aber wiederbelebt wird und den Jugendlichen zeigt, dass diese Knüpfstühle gefragt sind, dass sich damit Geld verdienen lässt.
Der Verkauf der Teppiche ist schwierig geworden. Kenntnisse und Geschmack haben sich im Laufe der Zeit geändert. Authentische Qualität und regionales Kunsthandwerk werden zwar sehr geschätzt, hohe Preise aber nicht. Insofern ist es gut, wenn es verschiedenste Aktivitäten rund um die Pommerschen Fischerteppiche gibt. Kopien, oder Rekonstruktionen, Interpretationen oder andere kreative Anwendungen beleben eine Tradition. Was bleibt, was sich durchsetzen wird, wird sich zeigen. Fundiertes Wissen und gutes Handwerk sind dafür die beste Grundlage.

Es können Absatzwege, zum Beispiel in Kunsthandwerkgeschäften, Museums-Shops, Design-Läden, oder auch Tourismus-Informationen geschaffen, Arbeitsplätze gesichert und neue kreative Umsetzungen erarbeitet werden.

Und so können Pommersche Fischerteppiche wieder lebendiges Kulturgut werden und die Region Vorpommern stärken

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